Hing am Hang: Deutsch für Chinesen

Klar ist es für einen Europäer schwer, Chinesisch zu lernen, aber das liegt vor allem an der chinesischen Hieroglyphen-Schrift, während andersherum alle Chinesisch-Lernenden bestätigen werden, dass die chinesische Grammatik sehr einfach ist, denn es gibt bei uns keine Deklinationen und Konjugationen, also auch keine Fälle wie Genitiv, Dativ oder Akkusativ, ganz zu schweigen von den Dutzenden von Kasus im Finnischen, Ungarischen, Baskischen oder Georgischen.

Man muss für Chinesisch also keine Grammatikregeln pauken und braucht somit auch keine Ausnahmen von irgendwelchen Regeln zu kennen. Von Regeln und Ausnahmen gibt es aber im Deutschen jede Menge. Und diese Regeln und Ausnahmen halten sich nicht an irgendein System, sondern muten absolut willkürlich an. Man muss also, wenn man ein deutsches Hauptwort lernt, direkt auch das Geschlecht, den Plural, den Akkusativ und einiges mehr sofort mitlernen, und bei jedem einzelnen Verb muss man ein paar Dutzend Formen verinnerlichen. Ich will jetzt nicht ins Detail gehen, aber glauben Sie mir: Ohne unbändigen Fleiß und ohne unendlich viel Übung ist es unmöglich, Deutsch zu lernen, wenn man aus China kommt.

Die Grammatik einer europäischen Sprache ist für uns Chinesen in etwa so verwirrend, wie wenn in der Mathematik zwei und zwei nicht immer vier ergeben würde, sondern auch mal fünf, wenn die erste Zwei anders betont wird, oder drei, wenn die zweite Zwei vor der ersten Zwei steht. Verstehen Sie auch nicht, was ich meine? Genau so geht es einem Chinesen, der es von seiner eigenen Sprache her gewohnt ist, geradlinig zu denken, geradlinig zu rechnen und geradlinig zu sprechen. Und das große Wunder ist, dass man mit der deutschen Sprache, wenn man sie trotz der enormen Hürden einmal beherrscht, objektive Sachverhalte und subjektive Empfindungen messerscharf zu sezieren und zu analysieren vermag.

Aber diese hohe Kunst der deutschen Sprache wird selbst den allerfleißigsten und masochistischsten Chinesen für immer verschlossen bleiben. Industriespione haben schon scherzhaft gemutmaßt, dass die deutsche Sprache erfunden wurde, um den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse unmöglich zu machen. Aber netterweise veröffentlichen deutsche Wissenschaftler ihre Forschungsergebnisse meistens auf Englisch, was für uns dann doch wesentlich einfacher zu verstehen ist, zumal das wissenschaftliche Englisch an ein internationales Lesepublikum angepasst ist.

Die Beherrschung der deutschen Sprache aber gelingt einem Chinesen nur, wenn man entweder zu den ganz wenigen Sprach-Megatalenten gehört, oder wenn man so angetan und besessen ist von dieser Sprache, dass man sie mit fanatischer Willenskraft und unter Zuhilfenahme aller innerer und äußerer Ressourcen zu bewältigen sucht, wenn man also bildlich gesprochen alle sieben Kammern der Shaolin durchschreitet.

Aus dem Buch „Land der Tugend“ von Yan Bian
Taschenbuch, 129 Seiten
erschienen im Dezember 2022
ISBN: 979-8369686119

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Von Yan Bian

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