Der 2018 erschienene Film „Lords of Chaos“ des schwedischen Regisseurs Jonas Åkerlund, der seit kurzem auf Netflix verfügbar ist, handelt vom Gründungsmythos und der Erbsünde des Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre in Norwegen entstandenen Genres des Black Metal rund um die Bands „Mayhem“ und „Burzum“. Im Gegensatz zum herkömmlichen Heavy Metal, das eher Hedonismus und Lebensbejahung vermittelt, zeichnet sich Black Metal durch Todessehnsucht, Autodestruktion, Nihilismus und Lebensverneinung aus, ganz deutlich vor allem in der Weiterentwicklung „Depressive Black Metal“ mit seinem verzweifelt-fragilen Todeskampfschreigesang und den abgründigen Moll-Riffs, die von Fans sowohl zur selbstzerstörerischen Steigerung ihrer Melancholie, als auch zur therapeutischen Katharsis genossen werden.

Åkerlunds Film zeichnet die tragischen Geschehnisse der norwegischen Black-Metal-Szene Anfang der neunziger Jahre aus der posthumen Erzählperspektive des 1993 von seinem Musikerkollegen ermordeten Øystein Aarseth (Künstlername Euronymous) nach, Gründer der ersten Black-Metal-Band „Mayhem“, und zwar, wie viele Kenner und Mitglieder der damaligen Szene attestieren, mit akribischer historischer Detailtreue und sehr realitätsnah.

Dass der Film sehr kontrovers diskutiert wird, liegt vor allem an der sehr drastischen Zurschaustellung von Gewalt, vom Selbstmord des manisch-depressiven zwischenzeitlichen Sängers Pelle Ohlin (Künstlername „Dead“) bis hin zur Abschlachtung von Euronymous durch seinen Konkurrenten Kristian Vikernes alias Varg Vikernes (Künstlername damals „Count Grishnackh“). Letzterer macht heute noch geltend, dass er damals in Notwehr gehandelt habe, doch die Indizien und damaligen forensischen Befunde sprechen dafür, dass die im Film dargestellte Version des finalen Showdowns am ehesten der Wahrheit entspricht. Der Film wird ferner dafür kritisiert, dass eine „psychologisch schlüssige Aufarbeitung der Ereignisse“ fehle und die Ursachen für das „Abgleiten einer Jugendrevolte in schwere Straftaten“ nicht beantwortet werde (beide Zitate aus dem Musikmagazin „Metal Hammer“).

Meines Erachtens liegt der Wert des Films indes vor allem darin, dass er verdichtet und exemplarisch zeigt, wie eine wie auch immer geartete Bewegung nahezu automatisch von immer radikaleren Elementen übernommen wird und wie aus anfangs spielerischer Rebellion am Ende blutiger Ernst wird:

Der Protagonist des Films, Euronymous, hatte zu Beginn seiner musikalischen Karriere Spaß an jugendlichen Ausschweifungen und an der Provokation und gab sich und seiner Black-Metal-Bewegung zu diesem Zwecke ein böses Image, indem er sich satanistischer und religionsfeindlicher Symbolik befleißigte. Bei der Ausschreibung nach einem neuen Sänger wurde mit Dead ein introvertierter, depressiver und chronisch suizidgefährdeter Schwede rekrutiert, der durch seinen agonischen Kreischgesang und dann auch durch seine selbstverletzenden Bühnenauftritte zu überzeugen wusste, was der Band eine bis dahin einzigartige Morbidität verlieh.

Der erste Schritt zur Radikalisierung von der Spielerei hin zur Lebensverneinung war getan. Dass Dead sich kurze Zeit später tatsächlich in einer blutigen Selbstmordorgie richtete, bescherte „Mayhem“ eine enorme internationale Aufmerksamkeit und Anziehungskraft, gerade auch von Figuren, für welche die von der Band verkörperten Werte nicht bloß Spielerei waren. Eine Schlüsselszene des Films ist in dieser Hinsicht der Moment, in dem Varg Vikernes sich der Black-Metal-Klicke um Euronymous vorstellt und offenbart, dass er keinen Alkohol trinkt und kein Fleisch isst. „Wie Hitler“, kommentiert Euronymous scherzhaft, und Varg erwidert mit trockener Humorlosigkeit „Ja, wie Hitler.“ Varg hatte den Anschluss an die schwarze Szene gesucht, weil er deren Botschaften für bare Münze genommen hatte und sie mit Gleichgesinnten zusammen ausleben wollte. Wegen dessen musikalischer Genialität und Kompromisslosigkeit fand Euronymous Gefallen an Varg Vikernes, obgleich er bald merkte, dass dieser ihm den Führungsanspruch innerhalb der Szene streitig zu machen drohte. Der einzige Ausweg, um die Rolle als Hauptguru des Black Metals beizubehalten, war folglich, bei der Radikalisierung mitzugehen und schließlich mit Varg zusammen ein paar Kirchen abzufackeln.

Während diese Terrorbrandanschläge für Varg die logische Folge seiner antichristlichen und nächstenliebenfeindlichen Gesinnung war, bedeuteten sie für Euroynmous in erster Linie die Stärkung des verkaufsfördernden bösen Image der Black-Metal-Szene sowie seines Plattenlabels und seines inzwischen in Oslo eröffneten Musikladens. Euronymous konnte von dieser Stufe des Bösen nicht zurück, ohne Gefahr zu laufen, alles zu verlieren, in was er geistig und finanziell investiert hatte. Das änderte sich auch nicht, als ein Mitglied der Szene bekannte, in einem Wald einen Homosexuellen ermordet zu haben. Nach kurzem Entsetzen wollte sich Euroymous, vor allem in Vargs Gegenwart, keine Blöße geben und gratulierte dem Mörder zu seiner Tat, die ihn zum engsten Kreis des Vertrauens aufsteigen ließ.

Natürlich merkte Varg bald, dass für Euronymous die Sache mit der Black-Metal-Bewegung nur eine Pose war, was ihn als ehrlichem und humorlosem Misanthropen immer übler aufstieß. Der nächste  logische Schritt war, dass die Revolution ihre Väter fressen musste, ungeachtet dessen, dass in diesem Fall überhaupt keine realistische Chance auf eine wie auch immer geartete Machtergreifung bestand, da die norwegische Staatsgewalt dem Treiben der Brandschatzer und Mörder schnell ein Ende setzte und Varg dann eine Haftstrafe von fünfzehn Jahren absitzen musste.

Die Mechanismen der Radikalisierung einer Bewegung lassen sich also folgendermaßen zusammenfassen:

  1. Eine Gruppe wird gebildet, die sich gegen einen tatsächlichen oder empfundenen Missstand auflehnt. Ihre Stilmittel sind friedliche Provokation und oft auch die Schaffung einer Kontrakultur, mit denen sie sich von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen, sich gleichzeitig aber über die Aufmerksamkeit eben jener Mehrheitsgesellschaft freuen.
  2. Die neue Bewegung zieht Menschen an, welche die überbrachten Botschaften richtig finden und ernst nehmen und die aufgrund ihres psychologischen Profils, das von Humorlosigkeit und Zwanghaftigkeit geprägt ist, danach trachten, die geäußerten Ideen der Bewegung bis in die letzte Konsequenz umzusetzen. Innerhalb der Bewegung ringen dieser Personen um Einfluss und versuchen, alle Mitglieder auf ihren Kurs einzunorden. Diese eskalierende Radikalisierung kann in mehreren Stufen erfolgen.
  3. Die Gründungsmitglieder sehen ihren Einfluss und ihre Glaubwürdigkeit schwinden, wenn sie das ideologische Feld den konsequenten Emporkömmlingen überlassen und stimmen aus strategischen Gründen in den Chor der Radikalen ein.
  4. Die Radikalen kapern die Bewegung und lösen die als schwach und inkonsequent angesehenen Gründer ab. Die nun als glaubwürdig, prinzipientreu und tatkräftig geltende Führungsriege entfaltet eine neue Strahlkraft und verschafft der Bewegung neue Anhänger. Bei gutem Marketing kann eine solche Bewegung den Marsch durch kulturelle, mediale und politische Institutionen antreten und nach einer gewissen Zeit, oft auch erst nach einigen Generationen, die tonangebende gesellschaftliche und politische Macht bilden.

Natürlich gibt es viele Variationen dieser  musterhaften Mechanismen, wenn man sich die Geschichte von Revolutionen, religiösen Gruppen oder Jugendbewegungen anschaut. Doch auch auf Bewegungen in der Gegenwart lassen sich die oben skizzierten Entwicklungsstufen und Gruppendynamiken anwenden: Aus vergleichsweise moderaten Islamisten entwickelte sich der IS, der Botschaften aus dem 7. Jahrhundert wortwörtlich nahm, konsequent umsetzte und eine enorme Strahlkraft bei Menschen entwickelte, die von Natur aus schon zu schonungsloser Kompromisslosigkeit und zu Schwarz-Weiß-Denken neigten.

Aus dem Prinzip der politischen Korrektheit, die mit humanistischem Anspruch auf Rechtsgleichheit und eine Vermeidung der Verletzung der Gefühle von Minderheiten abzielte, schälte sich die fanatische Woke-Bewegung heraus, die abweichendes Verhalten bestrafen und Elemente der Mehrheitskultur „canceln“ will sowie mitunter einzelne Kulturen sauber voneinander segregieren möchte, indem sie sogenannte „Aneignungen“ sanktioniert.

Aus der ursprünglichen Umweltschutzbewegung, die von der Sorge um die Lebensqualität der Menschen der Erde angetrieben war, entstand eine Bewegung, die weniger den Menschen als vielmehr die Natur oder die Erde selbst retten will, eine Erde, für welche die Menschheit lediglich eine Belastung ist und in die Schranken gewiesen gehört. Dafür nimmt man gerne auch eine Deindustrialisierung und somit eine Abnahme der Lebensqualität der Menschen in Kauf.

Die Radikalisierung der beiden letztgenannten Bewegungen dürfte aufgrund ihres Erfolgs längst noch nicht die letzte Eskalationsstufe erreicht haben, und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Menschenverachtung bei einzelnen Splittergruppen IS-ähnliche Züge annimmt. In diesem Zusammenhang könnte man als weiteren unheilverheißenden Vorbote einer auf die Apokalypse zusteuernden Massenhysterie auch die weltweit grassierende Kriegsbegeisterung sehen.

„Lords of Chaos“ ist also, ob gewollt oder nicht, eine Parabel für die Radikalisierung jedweder Bewegung und zugleich eine Mahnung an alle vernünftigen Menschen der Welt, sich ihre geistigen Maßstäbe und die Messlatten für ihr Handeln nicht von fanatischen, neurotischen und spaßbefreiten Emporkömmlingen vorgeben zu lassen.

Lords of Chaos (2018)
Regie: Jonas Åkerlund
In den Rollen u.a.:
Rory Culken als Øystein Aarseth
Emory Cohen als Varg Vikernes
Jack Kilmer als Pelle Ohlin
Wilson Gonzalez Ochsenknecht als Snorre Ruch

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Ein Gedanke zu „Spielfilm „Lords of Chaos“: Eine Parabel für die Mechanismen der Radikalisierung“

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