Die Fußball-Europameisterschaft 2006 in Deutschland wird Fußballfans nicht nur durch die Verfilmung des Sommermärchens durch Sönke Wortmann ewig in Erinnerung bleiben, sondern auch durch die mittlerweile legendären und allgegenwärtigen Kommentare des Fußballreporters „Kiyoshi Inoue“, des „japanischen Heribert Fassbender“, wie er mittlerweile getauft wurde. Kaum ein E-Mail-Verteiler, kaum ein Blog und kaum ein Forum sind sicher vor den Inoue-Aussprüchen, die offenbar schon im August 2006 ins Deutsche übersetzt und im Web erstveröffentlicht worden waren, zuerst wahrscheinlich auf dem damaligen Satireblog „Gustloff“. Die Reaktionen auf die Inoue-Sprüche sind vielfältig. Die meisten Deutschen geben sich entsetzt angesichts der scheinbar mangelhaften geographischen und historischen Kenntnisse des Japaners, der etwa den Rhein als Grenze zwischen West- und Ostdeutschland festlegt, und über seine haarscharfen Analysen Deutschlands nach der Wiedervereinigung, wo der Solidaritätszuschlag alle fleißigen Westdeutschen in die Emigration treibe.

Andere Leser, offenbar etwas geschulter in interkultureller Kompetenz, halten dagegen, dass ja auch deutsche Fußballreporter, wie etwa unser legendärer Fassbender, auch nicht gerade mit der richtigen Aussprache ausländischer Fußballernamen glänzen oder gar mit geographischen Kenntnissen in Bezug auf frühere WM-Ausrichter auftrumpfen können. Der typische Forendialog lautet: „Mann, sind diese Japaner doof, fast so blöd wie die Amis.“ – „Ja, schon, aber mal ehrlich, wir haben doch genauso Vorurteile gegenüber Japanern, was wissen wir schon über die? Außerdem ist ja nur der Kiyoshi Inoue doof, das heißt doch nicht, dass alle Japaner so drauf sind“.

Nur wenige deutsche Forenteilnehmer vermuten, dass Kiyoshi Inoue seine Aussagen nicht ganz so ernst gemeint haben könnte, ja dass man es vielleicht mit einem spezifisch japanischem Humor zu tun habe, vielleicht sogar mit einer Nippon-Version von Harald Schmidt. Dies kommt der Wahrheit wohl am nächsten, zumindest wenn man etwas näher über Kiyoshi Inoue forscht, etwa bei japanischen Sprachschülern in Deutschland.

Zwar ist Inoue in Japan selbst kaum bekannt, aber die wenigen Japaner, die den Namen schon einmal gehört haben und denen die besagten Sprüche vorgelegt wurden, bestätigen sofort, dass es sich hier nur um Humorprodukte handeln könne. Knöpfen wir uns also die Kommentare einzeln vor:

    “Auch ein paar Schwarze spielen für Deutschland. Auch Deutschland hatte ja viele Kolonien in Afrika.“

Hier handelt es sich um eine typisch japanische Humorfigur (in der Fachsprache „Humorem“): Es werden zwei Sätze nebeneinandergereiht, in denen jeweils semantisch ähnliche Wörter vorkommen. Der Witz dabei ist, dass die beiden Sätze keinen direkten inhaltlichen Zusammenhang miteinander aufweisen. Ein ähnlicher Satz wäre: „Beckham hat eine Bananenflanke geschossen. Auch die Spice Girls sollen ja auf Bananen stehen.“ Man kann also davon ausgehen, dass Kiyoshi Inoue weiß, dass die Schwarzen in der deutschen Nationalmannschaft nichts mit dem deutschen Afrika-Kolonialismus zu tun haben.

    “Der Mann, an den sich Angela Merkel da kuschelt, ist der italienische Präsident – Romano Berlusconi. Schon im Zweiten Weltkrieg arbeiteten Deutschland und Italien zusammen.“

Es handelt sich hier um ein ähnliches Humorem wie oben: Dass Deutschland und Italien zu den Achsenmächten gehörten, hat nichts damit zu tun, dass Merkel und Prodi sich gemeinsam ein Fußballspiel ansehen. Dazu kommt noch ein weiteres typisch japanisches Humorem: Das Vertauschen von fremdländischen Namen. Dadurch wird eigenironisch ausgedrückt, dass man größte Schwierigkeiten hat, ausländische Namen korrekt auszusprechen bzw. sich neue Namen anzugewöhnen. Man hat als Japaner gerade mühevoll gelernt, Berlusconi zu artikulieren und muss nun das nicht minder schwere Prodi lernen. Da nimmt man lieber augenzwinkernd den bewährten Namen. Ein weiteres Humorem ist ein dezenter Hinweis auf die eigene Geschichte: Natürlich ist Inoue klar, dass auch Japan zu den Achsenmächten gehörte. Übrigens werden Deutsche in Japan zur Begrüßung gerne scherzhaft mit folgender Forderung konfrontiert: „Das nächste mal ohne die Italiener“. Das heißt mitnichten, dass man gemeinsam mit Deutschen einen neuen Krieg vom Zaune brechen will, sondern stellt eine sarkastische und witzig gemeinte Art der Vergangenheitsbewältigung dar.

    „Diesen deutschen Spieler kann kein Mensch aussprechen, ich muss mal auf meine Liste schauen: Shi-wai-nu-shi-tai-gari. Nennen wir ihn einfach “Das Lachsgesicht mit der Bürste auf dem Kopf”.“

Dies ist eine weitere typische Demutsgeste in Bezug auf die schwierige Aussprache europäischer Namen für Japaner, die es gewohnt sind, dass fast jede Silbe auf einen Vokal endet. Da ist es kein Wunder, dass man adhoc zu kreativen Umschreibungen von Spielern greift. Schon bei der WM 2000 wurde so aus Oliver Kahn der „Donnergott“. Und „Lachsgesicht“ nennt man in einigen Gegenden Japans (z.B. in der Hafenstadt Hamamatsu) jemand mit einer rosa Gesichtshaut, was zumindest bei Frauen als Kompliment gemeint ist.

    “Hier in Dortmund sieht man noch deutlich, dass hier früher das kommunistische Ostdeutschland war. (Daraufhin der Ko-Kommentator Ist das wirklich schon Ostdeutschland? (Inoue: Ja, der Fluss Rhein war früher die Grenze. Wer da rüber wollte, wurde erschossen. Es gab nur eine Brücke, bei Remagen, die ist jetzt wieder aufgebaut.“

Japaner, auch Fußball-Kommentatoren sind für gewöhnlich sehr gut über Deutschland informiert. Kaum denkbar, dass Japaner, von denen die meisten schon zur Zeiten der deutschen Teilung den Mittelrhein heruntergeschippert waren, nicht wissen, wo die innerdeutsche Grenze lag. Es handelt sich also um ein weiteres Humorem: Das bewusste und kunstvolle Verzerren geschichtlicher Zusammenhänge, um einen Lacheffekt zu erzielen – diesmal auch auf Kosten des offenbar humoristisch grünschnabeligen Ko-Kommentators. Hier wirft Inoue historische Schlüsselbegriffe so gekonnt durcheinander, dass auch die meisten Deutschen an dieser Stelle wohl in schallendes Gelächter ausbrechen, obwohl sie nicht ahnen, dass ein Lachmuskelreiz genau Inoues Absicht war, wovon übrigens auch Friedrich Küppersbusch schon profitierte.

    „Viele Frauen haben uns angerufen und gefragt, wer denn dieser supergut aussehende Mann auf der deutschen Bank ist. Das ist Biru, einer der drei Trainer der deutschen Mannschaft.“

Hier handelt es sich ausnahmsweise nicht um einen Witz. Oliver Bierhoff entspricht wohl tatsächlich dem Schönheitsideal auch sehr vieler japanischer Frauen. Daher ist es wahrscheinlich, dass Inoue tatsächlich viele Anrufe bekommen hat. Und dass er über die genauen Funktionen des Dreigespanns Klinsmann-Löw-Bierhoff nicht Bescheid weiß, wird ihm wohl kaum jemand ernsthaft verdenken.

    „Auch er (gemeint war Klinsmann) wurde kritisiert, weil er nicht in Deutschland Steuern zahlt. Das machen viele deutsche Sportler, wie auch der Tennisspieler Beku (gemeint war wohl Boris Becker) und der Rennfahrer Schumi, denn nach der Wiedervereinigung wandern alle Leistungsträger aus Deutschland aus. Die Regierung kassiert alles Geld, um es den armen Ostdeutschen zu geben, die sich noch nicht an Arbeit gewöhnt haben.“

Hier gab es in deutschen Forendiskussionen viel Zustimmung gerade in liberalen und konservativen Kreisen, da in ihren Augen die Aussage Inoues einen wahren Kern enthält: Durch seine Sozialtransfers vergrault Deutschland seine Leistungsträger. Auch in den japanischen Medien wurde bereits 2006 darüber berichtet, dass jährlich immer mehr Selbständige und hochqualifizierte Fachkräfte, Ärzte und Sportler aus Deutschland emigrieren. Für jemand, der sich die leistungsorientierte ostasiatische konfuzianische bzw. shintoistische Mentalität zueigen gemacht hat, mutet es befremdlich an, dass jemand anderes als man selbst und die eigene Familie die Früchte der eigenen Arbeit ernten solle. Dass arbeitsfähige Bürger vom Staat alimentiert werden, ist für Japaner, aber auch für Koreaner, Chinesen und Vietnamesen ein westeuropäisches Kuriosum, egal ob sie sich für Kommunisten oder für Kapitalisten halten. Insofern meint Inoue seine humoristisch etwas überspitzte und semantisch verdichtete Analyse wahrscheinlich durchaus ernst. Als Lehrstück in Sachen interkultureller, in diesem Falle deutsch-japanischer, Kompetenz können die Inoue-Sprüche und deren Rezeption in Deutschland also durchaus gelten. Die Lehre kann lauten: Wenn ein Ausländer etwas Skurriles sagt, sollte man nicht sofort annehmen, dies basiere auf Blödheit. Vielmehr sind Kenntnisse des kulturellen, historischen, gesellschaftlichen, sprachlichen und humoristischen Kontexts der Output-Quelle erforderlich, um diese auch nur annähernd verstehen zu können.

Teilen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert